Designerin
Designerin
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Sie hieß Marlene Vey, eine Frau, deren Name in der Welt der Mode selten laut ausgesprochen wurde, aber hinter vorgehaltener Hand oft fiel – wie ein Geheimtipp, ein Flüstern, das sich von Atelier zu Atelier,
von Ausstellung zu Ausstellung weitertrug. Marlene war keine Designerin im klassischen Sinn. Sie entwarf keine Kollektionen für Laufstege,
mied Interviews und vermied den grellen Rummel der Modewochen, aber dennoch galt sie in bestimmten Kreisen als eine der visionärsten Gestalterinnen ihrer Generation.
Ihre Entwürfe waren nicht einfach Kleidungsstücke, sie waren Räume aus Stoff, Bewegungsskulpturen, Erinnerungen, die man sich überstreifen konnte.
Geboren in einer kleinen Stadt an der Küste, umgeben von rauem Wind, salziger Luft und den blassen Farben des Nordens, entwickelte sie schon früh ein besonderes Gespür für Zwischentöne – für das Unausgesprochene,
das sich in Silhouetten, Falten und Texturen verbergen konnte.
In ihrem Atelier, das sich in einem ehemaligen Gewächshaus befand, wuchsen Pflanzen und Ideen in einem seltsamen Gleichklang. Stoffbahnen hingen von den Decken wie schimmernde Blätter, und wenn man das Atelier betrat,
hatte man das Gefühl, einen lebendigen Organismus zu betreten, der atmete, wuchs und sich stetig verwandelte. Marlene arbeitete oft nachts.
Sie sagte, der Tag sei zu laut, zu gefüllt mit Erwartungen, während die Dunkelheit den Gedanken Raum gebe.
Ihre Finger glitten dann über Stoffe, als würden sie mit ihnen sprechen, nicht in Worten, sondern in Temperaturen, Widerständen, Geschichten.
Jedes Stück, das sie entwarf, hatte eine Seele, einen Rhythmus, der über bloße Form hinausging. Ihre Kundinnen – meist Künstlerinnen, Architektinnen oder Tänzerinnen –
beschrieben das Tragen ihrer Kleider als etwas Zwischenweltliches, fast Traumhaftes. Es war, als würde man nicht etwas anziehen, sondern in etwas eintauchen, das einen veränderte,
weicher oder klarer machte, je nachdem, was man brauchte.
Marlene selbst blieb oft im Hintergrund, obwohl ihre Erscheinung kaum zu übersehen war. Groß gewachsen, mit silbernen Haaren, die sie schon mit Anfang dreißig nicht mehr färbte,
und einem Blick, der so ruhig wie fordernd war, schien sie sich zwischen den Zeiten zu bewegen.
In ihren Entwürfen mischte sich japanische Schlichtheit mit der Erhabenheit flämischer Malerei, die Funktionalität eines Architektengrundrisses mit der Sinnlichkeit barocker Vorhänge.
Sie hasste Trends, sah in ihnen das schnelle Vergehen, die Hektik des Konsums, und stattdessen entwarf sie Stücke, die man ein Leben lang tragen konnte, weil sie nicht nur modisch, sondern existenziell waren.
Einmal sagte sie in einem seltenen Gespräch mit einer jungen Modestudentin, dass Design für sie nicht das Sichtbare sei, sondern das, was im Innern eines Menschen in Bewegung gerät,
wenn man etwas trägt, das einen versteht. Dieser Satz blieb hängen, wie vieles an ihr – nicht greifbar, aber bleibend.
Und so wuchs ihre Arbeit wie unterirdische Wurzeln weiter, unbeachtet von den großen Magazinen, aber tief verankert in jenen, die sie wirklich kannten.
Ihre Kollektionen erschienen nie zu bestimmten Jahreszeiten, sondern immer dann, wenn sie reif waren. Ihre Stoffe kamen nicht von Messen,
sondern von Reisen, aus verlassenen Häusern, von Dachböden, Märkten oder alten Theatern, und manchmal sprach sie davon, dass ein Kleid schon hundert Leben in sich trage, bevor es überhaupt genäht sei.
Eines Tages, so erzählen es diejenigen, die sie am besten kannten, verschloss sie ihr Atelier für einige Wochen. Niemand wusste, woran sie arbeitete.
Als sie es wieder öffnete, war der Raum vollständig verwandelt. Statt auf Büsten oder Kleiderstangen lagen ihre Entwürfe in Glasvitrinen, eingerahmt von trocknenden Blumen, Notizen und Fragmenten von Musik.
Es war keine Präsentation, sondern ein Abschied, und tatsächlich verschwand sie wenige Monate später aus der Öffentlichkeit.
Manche sagen, sie sei an einen Ort gezogen, an dem es keine Uhren gebe, nur das Meer und eine kleine Werkstatt aus Holz. Andere glauben, sie entwerfe noch immer – nur für sich, nur für den Wind.
Was bleibt, sind ihre Stücke, ihre Idee von Schönheit, die leise kommt, aber tief bleibt. Und die Ahnung, dass Design mehr sein kann als Mode – nämlich eine Form von Erinnerung.